Dank dem Smartphone und seiner mobilen Freunde ist das Vergessen zum Volkssport geworden. Digitale Amnesie nennt sich das Phänomen, Informationen zu vergessen, die digital abgespeichert werden. Die Abhängigkeiten, die daraus entstehen, machen das Smartphone zu einem Teil unseres Selbst. Die Sicherheitsfirma Kaspersky Lab, die den Begriff der digitalen Amnesie geprägt hat, zeigt in einer Studie, wie sich das Vergessen auf unser Denken und Handeln auswirkt.
Das Wissen im Freundes- und Bekanntenkreis, dass in analogen Zeiten noch wertvoll war, erscheint nun nahezu skandalös löchrig. Die Weiten des Internets spucken jede Information aus – pietätslos, informativ, tiefgründig. Kein Wunder, dass das Smartphone mit all unseren Daten und der Verbindung zum Wissensschatz der Menschheit, für uns wie ein guter Freund erscheint.
Internet als Motor für die digitale Amnesie
Die Fähigkeit sich etwas zu merken ist im digitalen Alltag zu einer weniger wichtigen Eigenschaft verkommen. Das Netz weiß alles und kennt jeden. Keiner, dessen digitales Ich nicht auffindbar wäre. Welche Konsequenzen die online immer verfügbaren Informationen auf unserer kognitives Verhalten haben, zeigt die Kaspersky-Studie „The rise and impact of Digital Amnesia“. Hierfür wurden rund 6.500 Männer und Frauen ab 16 Jahren in verschiedenen europäischen Ländern, darunter rund 1.000 in Deutschland, befragt. 83,5 Prozent der deutschen Studienteilnehmer nutzen, dank Smartphone und Tablet, das Internet als eine Art externe Festplatte. 10,1 Prozent verlassen sich gänzlich darauf, bestimmte Fakten jederzeit online abrufen zu können. Über ein Viertel (28,4 Prozent) der deutschen Befragten versucht gar nicht erst, ohne das Internet bestimmte Fragen zu lösen. 65 Prozent glauben, dass es überflüssig ist, sich Informationen zu merken, die online verfügbar sind. Stattdessen prägen sie sich den Weg ein, wie sie die gewünschten Informationen erhalten.
„Oft wird behauptet, Informationen online zu recherchieren anstatt sie im Gedächtnis zu haben, mache unser Denken oberflächlicher“, sagt Dr. Maria Wimber, Dozentin an der School of Psychology der University of Birmingham. „Studien haben gezeigt, dass das aktive Abrufen von Fakten aus dem Gedächtnis dort zu einer dauerhaften Verankerung führt. Werden dieselben Fakten dagegen immer wieder passiv im Internet gesucht, prägen wir sie uns nicht vergleichbar tief ein. Man kann also sagen, dass der Trend zur Suche im Internet nicht gerade förderlich für die Entwicklung unseres Langzeitgedächtnisses ist. Insofern werden Informationen von uns tatsächlich oberflächlicher und flüchtiger verarbeitet.“
Das Internet als Gedächtnisstütze
Wer glaubt, dass vor allem Jüngere vom Phänomen der digitalen Amnesie betroffen sind, der irrt. Laut Studie verlassen sich vor allem Menschen ab 45 Jahren auf das immense Wissen des World Wide Web. „Es gibt Hinweise darauf, dass Menschen mit zunehmendem Alter Probleme haben, Fakten im Gedächtnis abzurufen, weil dort im Alter so viele Informationen abgespeichert sind, dass der Suchprozess einfach länger dauert“, erklärt Dr. Kathryn Mills vom Institute of Cognitive Neuroscience am University College London (UCL). „Theoretisch gesehen erleichtert die Auslagerung bestimmter Informationen auf digitale Speicher daher das Abrufen von Informationen aus dem Gedächtnis.“
Digitale Amnesie als Phänomen des neuen Jahrtausends
Über die Hälfte (55,3 Prozent) der Befragten in Deutschland können sich noch an die Telefonnummer erinnern, unter der sie im Alter von zehn Jahren erreichbar waren. Im Gegensatz dazu sind fast genauso viele (54 Prozent) der deutschen Eltern ab 35 Jahren nicht in der Lage, die Nummer ihrer Kinder auswendig zu zitieren. Ohne den Smartphone-Speicher kann nur jeder zehnte Elternteil in der Schule des eigenen Kindes anrufen. Sechs von zehn Befragten in Deutschland kennen die Telefonnummer des Partners auswendig. „Zu vergessen ist an sich nichts Schlechtes“, sagt Dr. Mills. „Der Mensch ist sehr anpassungsfähig und vergisst vieles, was nicht von Bedeutung ist. Problematisch wird es erst dann, wenn wir die vergessenen Fakten tatsächlich benötigen. Wir kümmern uns weniger darum, uns etwas merken zu müssen, weil wir es vernetzten Geräten anvertrauen. Der Internetzugang ist für uns so selbstverständlich geworden wie Strom oder Wasser.“