Jerusalem-Syndrom: Definition, Symptome und Therapie

Jedes Jahr zieht es zahlreiche Touristen und Pilger nach Jerusalem. Die Heilige Stadt ist seit Jahrhunderten Sehnsuchtsort vor allem für Christen, Juden und Moslems. Sie alle eint die Suche nach Erleuchtung und Erlösung. Die Wirklichkeit des modernen Israels, innere Konflikte und psychische Vorerkrankungen können in einem Wahn enden, der als Jerusalem-Syndrom bezeichnet wird.

Definition des Jerusalem-Syndroms

Beim Jerusalem-Syndrom handelt es sich um eine meist vorübergehende psychische Störung. Das Phänomen ist seit Jahrhunderten bekannt. Seit den 1980er Jahren wird in der Hauptstadt Israels an dem Jerusalem-Syndrom geforscht. Der israelische Arzt Yair Bar-El am Kfar Shaul Mental Health Center diagnostizierte das Phänomen und prägte seinen Namen.

Symptome des Jerusalem-Syndroms

Überwältigt von der religiös aufgeladenen Atmosphäre der Stadt halten sich Besucher plötzlich für eine biblische Figur. Häufig sind es bekannte Persönlichkeiten wie König David, Moses, Maria, Johannes der Täufer, Jesus oder der Allmächtige persönlich. Kurz nach der Ankunft in Jerusalem zeigen die Betroffenen psychische Auffälligkeiten wie Nervosität, Unruhe, diffuse Ängste und Schlaflosigkeit. Im weiteren Verlauf des Jerusalem-Syndroms kommt es zu religiösen Wahnvorstellungen. Oftmals legen die Betroffenen ihre Kleidung ab und hüllen sich in weiße Gewänder – nicht selten mithilfe der Bettwäsche ihres Hotels. So ziehen sie betend und singend durch die Gassen Jerusalems und predigen ihre Botschaften. Sie verkünden die nahende Ankunft des Messias, warnen vor dem bevorstehenden Weltuntergang oder verlautbaren jene Botschaft, die Gott ihnen in ihrem Wahn zukommen ließ. Etwa 200 der Touristen, die Israels Hauptstadt pro Jahr besuchen, befällt das Jerusalem-Syndrom. Ein besonders schwerer Fall religiöser Wahnvorstellungen ereignete sich 1969. Der australische Schafhirte und Bibelforscher Denis Michael Rohan verübte einen Brandanschlag auf die Al-Aksa-Moschee auf dem Tempelberg. Getrieben von einem angeblich erhaltenen Auftrag Gottes.

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Therapie des Jerusalem-Syndroms

Vor allem Menschen mit psychischen Vorerkrankungen erliegen dem Jerusalem-Syndrom, das keine anerkannte Erkrankung im Sinne des internationalen Diagnoseschlüssels darstellt. Die Symptome des Jerusalem-Syndroms fallen hier unter „Akute und vorübergehende psychotische Störungen“. In den Krankenhäusern Jerusalems wird der Wahn mit leichten Beruhigungsmitteln und Gesprächstherapie behandelt. Hiermit bessern sich die Symptome in der Regel innerhalb weniger Tage. Ein chronischer Verlauf des Jerusalem-Syndroms ist selten. Das Verlassen der Stadt hilft in vielen Fällen, da das Krankheitsbild ortsgebunden ist. Doch nicht jedem ist so einfach geholfen, wie dem Tourist, der ohne Vorzeichen dem Wahn in der Heiligen Stadt verfällt.

Yair Bar-El und seine Kollegen dokumentierten in einer Studie über einen Zeitraum von 13 Jahren (1980 – 1993) 1200 Fälle des Syndroms in Jerusalem. In ihrer im Januar 2000 im Fachjournal „The British Journal of Psychiatry“ veröffentlichten Studie, konnten die Ärzte drei Patientengruppen ausmachen. Typ I reist allein nach Jerusalem und leidet an einer bipolaren Störung oder Schizophrenie. Typ II reist meist in Gruppen und ist anfällig für psychische Erkrankungen. Er weist eine Persönlichkeitsstörung auf oder reist besessen von einer fixen Idee nach Israel. Typ III besucht als Tourist mit Freunden oder Familie die Stadt. Er hat keine psychiatrische Vorgeschichte und entwickelt erst in Jerusalem die psychotischen Symptome. Bei Patienten vom Typ III sprechen Experten vom „reinen“ Jerusalem-Syndrom. Da hier keinerlei psychische Vorkommnisse in der Vergangenheit ein Rolle spielen. Typ I und II werden aufgrund der Vorerkrankungen als „überlagertes“ Jerusalem-Syndrom bezeichnet.

Fälle des Jerusalem-Syndroms seit der Jahrtausendwende rückläufig

Die Zahl der behandelten Fälle des „reinen“ Jerusalem-Syndroms nimmt seit der Jahrtausendwende stetig ab. Fachleute vermuten, dass die abnehmende Religiosität der Menschen eine Rolle spielt. Zudem wissen die Menschen dank des Internets schon vor ihrer Reise, was sie in Israel erwartet. Vorstellungen und Fantasien über die Heilige Stadt treffen nicht mehr unvermittelt auf die harte Realität und führen zu emotionalen Überreaktionen. Mit dem Rückgang der Fälle ist eine weitere Erforschung des „reinen“ Jerusalem-Syndroms kaum noch möglich.